Easy Rider

Vor einigen Stunden sind wir auf Siargao angekommen, dem Surferparadies, das mittlerweile für internationale Wettbewerbe bekannt ist. Das Naturschutzgebiet "Siargao Islands Protected Landscape and Seascape" liegt vor der Nordostküste der Insel Mindanao und ist das größte marine Naturschutzgebiet der Philippinen. Es bedeckt ein Gebiet von 278.914 Hektar, verteilt auf 216.913 Hektar Meeresgebiete und 62.796 Hektar Inselgebiete. Die Anreise ist eine Odyssee: Drei Inlandsflüge und eine Fahrt im überfüllten Minivan inklusive. Eine gute Entscheidung, wie wir sowohl beim Landeanflug als auch während der Autofahrt begeistert feststellen. Eine wunderschöne, wilde und noch recht unerschlossene Insel. Angekommen an einem verträumten Ort, in dem neben den Einheimischen nur ein paar sonnengebräunte, durchtrainierte Surfer mit gebleichten Dreadlocks in Boardshorts mit ihrem Surfbrett unterm Arm herumlaufen - fast wie in „Gefährliche Brandung“ - ist die Stimmung nochmal anders als in dem touristischen El Nido. Surfmusik von Jack Johnson und den King Kongs läuft über die Lautsprecher der wenigen Strandbars, während die Surferboys lässig eine Partie Poolbillard spielen, weil der Wind gerade auflandig bläst und die Wellen dadurch nicht mehr so schön laufen lässt. Die guten Wellen müssen vom Wind von vorne hoch geputscht werden, damit der Surfer in der Tube dahinpreschen kann. Es dreht sich alles fast ausschließlich um die Mutter aller Boardsportarten. Kommt der Wind sideshore oder onshore, werden am Strand nebenan die Kites aufgepumt. Es ist faszinierend, den Kitesurfern bei gewagten Sprüngen wie "unhooked to blind" oder "slob" (lead hand, front toeside grab, back leg boned out, board rotated 180 while in the air) zuzuschauen. Ich übe derweil zwischen den ganzen coolen Beach-Babes mit einem angestrengt souveränen Gesichtsausdruck das Wendemanöver "Straßenbahnhalse für Dummys". 

 

Wie wunderbar! Es gibt sie anscheinend noch, die unberührte Insel, ohne Massentourismus. Hier rennen neben den etwas mehr als 20.000 Einwohnern momentan geschätzt 200 Gäste aus aller Welt herum, davon sind 198 Gäste Surfer. In der Surf-Hauptsaison zwischen Juli und Oktober gibt es etwa 1000 weitere Besucher auf der Insel. Es gibt so gut wie keine alternativen Angebote für Ausflüge und Aktivitäten. Man kann surfen. Oder eben surfen. Wir erkundigen uns nach den Möglichkeiten für ein paar Tauchgänge: "Ja,  das ginge irgendwie schon", man müsse sich jedoch alles modular zuammen bauen. Es gäbe Einen im Ort, der hätte ein Boot, das wir samt dem Besitzer mieten müssten. Ein Anderer habe das Equipment, das wir benötigen. Und dann gäbe es noch jemanden, der die Lizenz hat, mit uns tauchen zu gehen. Der mit dem Equipment besäße diese nämlich nicht. Wir denken über Alternativen nach. Man schwärmt uns von der tollen Landschaft im Landesinneren der Insel vor. Wir fragen, ob wir diese wohl durch eine Wanderung erschließen könnten. Auch hier ein freundliches aber ratloses Schulterzucken. "Das ginge sicherlich". Wir müssten nur einen Kundigen finden, der uns bereitwillig als Guide über die Berge und durch die teils recht unwegsame Landschaft führen würde. Die Einheimischen lachen darüber, dass wir freiwillig durch den Dschungel laufen wollen. Das hätte hier noch keiner angefragt. Man fürchtet sich vor den Schlangen und Mythen. So kompliziert es klingt, sich hier selbst sein Programm zu organisieren, so wenig ist diese Insel für den gemeinen Touristen vorbereitet. Was mich sehr freut. Denn dementsprechend unabgenutzt ist der Kontakt zwischen Einheimischen und Fremden.

 

Nach den ersten Eindrücken am Tag unserer Ankunft beginnt der nächste Tag spektakulär: noch beim Frühstück beschließen wir, uns ein für Asien typisches Fortbwegungsmittel zu mieten: ein gutmütiges Moped. Damit wollen wir uns bei einer kleinen Tour einen Überblick über die Insel verschaffen. Das Lodge-Personal kommt uns überaus hilfreich bei der Organisation entgegen, eine Stunde später stehen die Zweiräder vor der Türe. Mopeds in Frankfurt haben wir anders in Erinnerung: kleiner und bequemer, mit seitlichen Trittbrettern für die Füße. Hier stehen nun zwei uns recht groß erscheinende Geschosse vor unserer Nase: jeweils eine Honda 125. Cool, ein fast richtiges Motorrad! Hiermit können wir bei Rückenwind bis zu 115 km/h schaffen. Doch daran ist zunächst nicht zu denken. Unter Gelächter und Applaus der Einheimischen nehmen wir unsere ersten Fahrstunden. Für eine Motorradtour habe ich heute auch leider nicht die richtige robuste Kleidung angezogen: ein luftiges Kleid und Sandaletten mit Keilabsatz aus Bast. Schwamm drüber! Wir wollen es ja nur mal kurz ausprobieren und schwingen uns in den Sattel. Mit dem Pedal auf der linken Seite kann man durch Kippung nach vorn den eingelegten Gang jeweils um einen bis zum maximal vierten Gang erhöhen, während die Kippung des Pedals nach hinten die Gänge zurücksetzt. Es gibt eine Bremse (Hinterrad) vor der rechten Fußstütze und neben dem rechten Lenkergriff (Vorderrad). Licht und Blinker befinden sich am linken Lenkergriff. Wir verabschieden uns, knattern los und wollen nur mal eben unsere Küstenstraße hinauf und hinunter fahren. Aber wir können nicht mehr aufhören. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht fliegen wir nach anfänglichen Unsicherheiten immer geschmeidiger über die Landstraßen, Schotterpisten, Schlammtrassen, Sandbahnen, Pfützen und Aspalt über die erstaunlich verkehrsfreien Straßen. Es existiert kein nennenswerter Verkehr auf ganz Siargao: lediglich ein Auto, zwei Motorräder und mehrere Fahrräder kommen uns entgegen. Schnell haben wir die ersten 40 km one way hinter uns zurück gelegt. Die Landschaft rauscht grün und saftig an uns vorbei. Wir fahren in sanften Serpentinen Berge hinauf und wieder herab, an Mangrovensümpfen, Palmenhainen, Reisfeldern und kleinen Ortschaften vorbei.  Am Straßenrand rennen uns die Kinder winkend hinterher. Tief im Landesinneren rufen ein paar Männer erfreut und etwas erstaunt, für einen Moment von der Feldarbeit aufschauend, der vorbei brausenden blonden Frau im Kleid auf dem Motorrad hinterher. Michael hat auf seiner „Harley“ hinter mir bereits den „Easy-Rider“-Gesichtsausdruck aufgesetzt und winkt, das Peacezeichen zeigend und hupend zurück. In manchen Dörfern treten einige vor ihre Häuser und schauen uns an, als würden hier nicht besonders häufig Ausländer mit blonden Haaren, hellen Augen und der aus Sicht der Asiaten für uns Europäer so charakteristisch großen Nase vorbei fahren. Zwei Kindlein lachen mich aus und zeigen auf meine Nase: "your nose... is so big... hahaha... don't worry... haha". Mpfh... ich lache herzhaft mit und erkläre, dass es sich gar nicht so schlecht leben lässt mit so einer Nase. Um rechtzeitig wieder zuhause zu sein, müssen wir uns irgendwann zum Umkehren zwingen und treten den ebenso langen Rückweg an, der uns erstaunlich kurz vorkommt. Wir fahren durch Sonnenschein und durch Regen bis in die Dunkelheit hinein. Was für eine grenzenlose Freiheit! An unserer Unterkunft werden wir bereits mit besorgten Gesichtsausdrücken erwartet. Nachdem man uns und die Motorräder mit einem kurzen Blick inspiziert hat, tauschen wir mit den Philippinos ein glückliches und erleichtertes „take five“ aus. Morgen vielleicht wieder... und dann noch einmal...! Ich verstehe jetzt wieder ein Stückchen mehr von der Freiheit, die man in so vielen Facetten erleben kann. In Zukunft möchte ich in Frankfurt nur noch auf einer 125er zur Arbeit und zu meinen Verabredungen düsen. Den Wind im Gesicht und im Haar. Mittendrin und eins mit dem Geschehen. 

 

Die Philippinos gelten als sehr gastfreundlich. Diese Gastfreundschaft begegnet uns auf der Insel Siargao jedoch besonders deutlich und in ihrer puren, ursprünglichen Form. Sowohl aus anderen Ländern als auch von anderen Inseln auf den Philippinen kennen wir das zweischneidige Schwert von Gastfreundschaft: man kommt uns fast überall überaus freundlich und hilfsbereit entgegen. Aber oftmals wird zum Dank eine materielle Anerkennung erhofft. Ich finde das manchmal schwierig: bloß nicht zu offensichtlich auf diesen Wunsch eingehen. Das wäre sowohl plump als auch beleidigend und impliziert beim Empfänger, dass wir von ihm denken, er würde Bares für seine Freundlichkeit erwarten. Das Lächeln verschwindet jedoch meistens am Ende genauso schnell, wenn man diesem Wunsch nicht entspricht. Also schütteln wir dem Empfänger (meistens) dankend die Hand und lassen das darin versteckte Scheinchen unauffällig den Besitzer wechseln. Das Gleiche, aber nicht dasselbe! In solche Situationen geraten wir ab und zu, so lange wir die Touristen auf der anderen Seite des Zauns bleiben, ohne persönliche Berührungspunkte. Wechselt man die Seite, setzt man freundlich und offen einen Fuß über die "Türschwelle", wird man fast ausnahmslos in allen Ländern sofort in den Status eines Königs erhoben, den der Gast hat. Egal wie arm das Land und die Menschen darin sind. 

 

Wir machen noch eine weitere Erfahrung: wir kommen als Touristen, werden wie Gäste behandelt und gehen als Freunde. Auf unserer zweiten Motorradtour fahren wir, nach etlichen Kilometern durch fantastische Vegetation und Landschaft und, bis auf ein paar verrottete Holzhütten am Wegesrand, ohne Anzeichen auf Zivilisation, auf ein kleines Häuschen mit einer Schranke zu, an dem wir einen geringen Wegezoll zu entrichten haben, bevor wir das hinter der Schranke aus dem Nichts auftauchende Dorf durchqueren dürfen. Wir fragen die freundliche Frau nach dem Weg. Denn wir sind auf der Suche nach den Surfern, die mit Booten an eine abgelegene Stelle der Insel gefahren sind, um in den heute dort schöner als am Spot „Cloud 9“ laufenden Wellen zu toben. Wir möchten den Weg über Land nehmen, um mehr von der Natur mitzubekommen. Die Frau, Suita, packt lachend ihre sieben Sachen zusammen und beschließt, uns den Weg zu zeigen. Wir wissen weder genau, wo wir gerade sind, noch wie weit es bis zu dem Strand ist. Da wir annehmen, sie wolle uns nur um die nächste Kurve führen, um den Weg auszudeuten, fahren wir langsam und knatternd im Schritttempo neben ihr her. Suita führt uns durch ihr Dorf, zeigt uns u.a. die Schule und erklärt uns, dass dort immerhin acht Lehrer die Kinder dieser kleinen Dorfgemeinde unterrichten. Als wir die Schule passieren, rast eine Horde Grundschüler begeistert und lärmend auf uns zu. Wir bilden zusammen eine bunte Karavane während der spontanen Führung durch das Dorf. Wir erfahren, wer in welchem Haus lebt. Wer welchen Beruf ausübt. Wem welches Stückchen Land gehört. Als wir vor dem Elternhaus von Suita angekommen sind, bittet sie uns, die Motorräder davor abzustellen. Wir könnten von nun an nur noch zu Fuß weiter kommen. Die runzligen Alten winken uns freundlich zu. So lange Suita uns begleiten wird, übernimmt ihre Mutter die Stellung am Zollhäusschen, während ihr Vater unsere Motorräder bewacht. Wir haben keinen Schimmer wie weit es noch ist. Aber es spielt auch keine Rolle mehr, der Weg ist das Ziel geworden. Wie verzaubert klettern und tapern wir fasziniert und still ihren Geschichten lauschend hinter ihr her, während sie anmutig über improvisierte Hängebrücken und dünne Holzstämme balanciert, die über das kleine Flüsschen im Dorf und die Bächlein im dahinter liegenden dichten Kokospalmenhain führen. Vier der kleinen Strolche springen immer noch munter um uns herum und tollen vertraut in ihrem großen eigenen Abenteuerspielplatz, dem Wald, der Höhlen zum Versteckspielen, Wiesen, Farne, Kokospalmen, Bäche und ausreichend Hölzer sowie Steine für kleine Staudämme bietet. Und dann nach einigen hundert Metern: das Meer. Sand, Muscheln, Schwemmholz, Kletterfelsen. Eine schöne Kindheit, denke ich mir - trotz der Armut. Selten habe ich, außer in Uganda, so ein strahlendes, offenes Lachen in den kleinen Gesichtlein erlebt. Die Armut auf dem Land ist nicht vergleichbar mit der knallharten Armut in den Städten eines Dritte-Welt-Landes, wie wir leider noch erfahren werden. Suita erklärt uns, dass es auf den Philippinen keine Waisenhäuser gäbe. Zumindestens nicht auf Siargao. Eigentlich hat sie diese Insel und ihr Dorf noch nie verlassen. Wie die meisten Philippinos, denen wir begegnen. Aber hier wäre es so: wenn ein Kind seine Eltern verliert, dann passen andere Familienmitglieder oder die Dorfgemeinschaft auf das Kleine auf. Diese Tatsache überträgt sie optimistisch denkend auf ihr ganzes Land. Ihren Mann sieht Suita nur etwa ein- bis zweimal im Jahr. Er arbeitet auf der Insel Luzon als Fischer. Sie ist mit ihren Kindern auf sich allein gestellt und wird von ihren Eltern unterstützt, bei denen sie lebt. Sie erzählt uns im Laufe des Nachmittags noch viele bunte, spannende, magische und auch traurige Geschichten. Plötzlich hält sie inne und schaut an einer großen Palme hinauf. Sie sei traurig, dass sie nicht hoch auf die Plamen klettern könne, um uns eine Kokosnuss herunter zu holen. Wir spazieren langsam in ihr Dorf zurück. Als wir ihr für sich und ihre Kinder einen kleinen Beitrag geben möchten, weicht sie lachend zurück. Nein, das ginge nicht. Wir seien ihre Gäste. Am Ende des Rundgangs lädt sie uns zu sich nach Hause ein und überlegt, was sie uns anbieten könnte. Wir trinken einen frisch gebrühten leckeren Kaffee zusammen und unterhalten uns weiter. Die Kinder des Dorfes haben uns nun auch wieder entdeckt und stürmen das Haus. Um sie zu bespaßen, mache ich mit meiner kleinen Zaubermaschine Bilder von ihnen. Blitzschnell begreifen sie, dass sie das sind, die da auf dem kleinen Monitor auftauchen. Jetzt will jeder unbedingt einmal vor der Kamera stehen, Faxen machen und dann das Bild sehen. Die Kleinen balgen, quietschen und eumeln sich rollend am Boden vor Lachen. Ich setze mich in die Hocke, um ihnen die Fotos zu zeigen und werde von zwölf kreischenden Rackern gleichzeitig bestürmt, die mich lachend ins Wanken geraten lassen. Überall sind kleine Kinderhände, die zuppelnd und lachend um die Aufmerksamkeit buhlen. Am liebsten würde ich hier bleiben. So eine Rasselbande, das wär was! Leider müssen wir uns langsam verabschieden. Es ist schon wieder später Nachmittag, es wird bald dunkel und wir haben noch eine längere Rückfahrt vor uns. Beseelt, glücklich und traurig zugleich laufen wir winkend durch das Vorgärtchen zu unseren Motorrädern zurück. Wir müssen versprechen, wiederzukommen. Irgendwann...! Suita, die Kinder und das halbe Dorf begleiten uns noch bis zum Zollhäusschen. Dort bedanken wir uns herzlich bei Suitas Mutter, die so lange den Posten gehalten hat - obwohl in der Zwischenzeit wahrscheinlich kein Mensch vorbei gekommen ist. Surfer haben wir heute nicht gesehen. Aber dafür haben wir den schönsten aller Tage auf Siargao erlebt.